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Die Situation der jungen Menschen in Bulgarien, Violeta Kyoseva
Dieser Text von Violeta Kyoseva wurdfe im Jahre … im Rahmen … veröffentlicht
Bevor ich mich mit dem eigentlichen Thema befasse, möchte ich Ihnen eine kurze Visitenkarte meines Landes anbieten, weil ich mir beim Schreiben dieses Beitrages die Frage gestellt habe: „Was weiß der Westeuropäer über Bulgarien, über seine Kultur und Geschichte, über die sozialen und ökonomischen Verhältnisse heute, über die Menschen und ihr Demokratieverständnis?“
Geographisch liegt Bulgarien auf der Balkanhalbinsel, hat eine Flächengröße wie die neuen Bundesländer und die Einwohnerzahl liegt bei 8 Mio. Geopolitisch liegt Bulgarien in Südosteuropa und ist seit 2007 Mitglied der Europäischen Union.
Für uns, die Bulgaren, hat das Land eine sehr günstige Lage eines Kreuzweges zwischen dem Orient und Oxident. Für die Westeuropäer liegt Bulgarien sehr weit von den eigentlichen Zentren Europas enfernt. Der Balkan heißt für uns die Heimat, vielfältig und bunt, für Westeuropäer ist das ein oft negativ beladener Begriff, der auf seine Befreiung und Entspannung nicht zuletzt durch Europa wartet. Widersprüche wie, Stolz auf eine weit zurückliegende Geschichte und zugleich ein Verdrängen der jüngeren kommunistischen Vergangenheit, tauchen immer wieder in diesem Land auf. Höhepunkte wie: Vorbilder der Rennaissance in der Malerei, 7 Jahre vor Jotto, dem ersten Vertreter der Rennaissance in Italien, und das Schaffen des kyrillischen Alphabeths von den heiligen Brüdern Kyrill und Method tragen zur Entwicklung eines einzigartigen „kulturellen Bild“ bei. Das erschließt uns allen den Reichtum der Kultur des südlichen Balkans.
Ein Demokratieverständnis, das seine Wurzeln vor der Tür, in Form von altgriechischen Polis an der bulgarischen Schwarzmeerküste, tagtäglich erleben konnte, oder die in der Weltgeschichte einmalige Rettung der “eigenen” bulgarischen Juden in den Jahren 1940 bis 1944 durch einen starken Widerstand der bulgarischen Bevölkerung sind Tatsachen, die Kontinuität und geschichtsträchtige Macht besitzen.
In Bulgarien leben Christen, islamisierte bulgarische Türken, Armenier, Juden, Roma u.a. friedlich zusammen. In letzter Zeit jedoch in einem gespannten Verhältnis zu den Roma, aber in einer toleranten Beziehung zu den Türken. Bulgarien kann Europa durch diese geschichtliche Erfahrung und durch das schon bekanntgewordene „ethnische Modell“ auf dem Balkan bereichern. Dieses Reichtum meinen die Bulgaren, wenn sie selbstbewußt sagen: „Wir kommen nicht mit leeren Händen nach Europa“. Hier leben Menschen thrakischer, slawischer und bulgarischer Herkunft, die seit Mitte des 9. Jahrhunderts kyrillisch lesen und schreiben.
Neben den bedeutungsvollen Beispielen bulgarischer Geschichte und Kultur entwickeln sich rasante wirtschaftliche Prozesse, die für die Menschen in Bulgarien mehr als eine Herausforderung ja sogar eine Existenzbedrohung sind. Zu der gesellschaftlich-politischen Entwicklung in Bulgarien tragen Prozesse der über 15 Jahre andauernde Umbruchszeit und die ganz neuen Entwicklungstendenzen der Europäisierung und Globalisierung bei.
Um die Besonderheit der Veränderungen in Bulgarien zu verstehen, möchte ich auf die bulgarische Bezeichnung des Begriffs „Wende“ eingehen. Die in Deutschland als „Wende“ bezeichneten Ereignisse der Jahre 1989/90 heißen im Bulgarischen „als die Demokratie kam“. Allein dieser Begriff zeigt die Einstellung der Bulgaren zu dem wichtigsten Ereignis in Europa 1989. Das ist wieder etwas von Außen und nicht mit der Teilnahme und Entscheidung der breiten bulgarischen Massen geschehen, wie viele wichtige Ereignisse in der bulgarischen Geschichte. Damit kann das Phänomen der jüngsten Zeit „die Kultur der Abhängigkeit“ erklärt werden. Letzteres umschreibt die Erwartung der Menschen, dass der Staat oder ein Anderer das tun soll, was nach allgemeiner Überzeugung getan werden muss. Laut den soziologischen Angaben werde „die Kultur der Abhängigkeit“ eines der größten Hindernisse für die Integration des Landes in die EU darstellen. In Bulgarien gibt es keine Anzeichen für Euroskeptizismus. Hier existiert ein anderes Phänomen, das als Bulgaroskeptizismus bezeichnet werden könnte: Den Bulgaren fehle es an Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Kräfte.
Die neuesten Entwicklungstendenzen im sozio-politischen Leben Bulgariens erfordern eine grundlegende Reflexion und eine offene Diskussion. Hier tritt ein neuer Widerspruch auf: 15 Jahre nach der Wende hat die wichtigste gesellschaftliche Debatte in der bulgarischen Gesellschaft immer noch nicht stattgefunden.
Die am stärksten betroffene Zielgruppe von dieser gewaltigen Gesellschafts transformation sind die jungen Menschen in Bulgarien. Hier möchte ich über die Situation der jungen Menschen in Bulgarien berichten, wobei ich mich auf die aktuellste soziologische Forschung unter dem Titel: „Die bulgarische Jugend und die europäische Perspektive“ berufe.
Die neueste Information über die Situation der bulgarischen Jugend für 2003 basiert auf die vom Ministerium für Jugend und Sport bestellte soziologische Studie, auf Angaben des Nationalen Institut für Statistik, sowie auf Angaben anderer Regierungsinstitutionen, die Beziehung zu der Jugendpolitik in Bulgarien haben und ist ein Werk von Prof. Petar Emil Mitev, langjähriger Forscher der jugendpolitischen Fragen in Bulgarien.
Alle Resultate dieser Studie spiegeln die ungünstigen Tendenzen wieder hinsichtlich der demographischen Charakteristik, dem Gesundheitswesen, der Ausbildung, der Arbeitsbeschäftigung und Entwicklungschancen, dem gesellschaftliches Engagement und der Werte der jungen Bulgaren.
Von erstrangiger Bedeutung ist die Tatsache, dass die Jugendlichen in einem radikal veränderten internen und internationalen Kontext heranwachsen müssen. Der Prozess der Privatisierung verlief in Bulgarien wesentlich langsamer als in den Ländern Mitteleuropas. Im Jahre 1995 waren die meisten Unternehmen staatlich, im Jahre 2002 waren die meisten schon privat. Die soziologischen Untersuchungen zeigen, dass die jungen Menschen die Arbeit in einem Privatunternehmen bevorzugen, 1/3 von ihnen haben Bestrebungen zu einer eigenen wirtschaftlichen Initiative. Aber die Businesselite ist nicht nur für ehemalige Funktionäre anlockend. Eine Studie des Zentrums für Management und Sozialwesen 1997 zeigt, dass 48% der Universitätsstudenten, die schon zur Nachfolgegeneration der Komsomolzen, das waren die jungen Funktionäre der kommunistischen Partei, gehören, nach einer Leitungsfunktion und andere 8% nach einer Arbeitstelle in Privatunternehmen streben.
Die Änderung der Bedeutung des Arbeitsplatzes ist auch mit einer Veränderung der Beziehung zum Arbeitsinhalt verbunden: Kathegorisch wird eine sehr gut bezahlte Arbeit bevorzugt. Die Erklärung dafür liegt in den neuen Bedingungen. 15 Jahre nach der Wende sind sehr große Unterschiede und Ungleichheiten im sozialen System zu beobachten. Das Geld wird unter den neuen Umständen zu einem universalen Ausdruck des Lebenserfolgs. Die persönliche Entwicklung durch eine interessantere Arbeitsbeschäftigung verliert seinen Reiz bei einer niedrigen Bezahlung.
Die jungen Menschen wollen Erfolg haben. Dieser Wunsch nach Erfolg ist so groß, daß auch der Preis der moralischen Kompromisse annehmbar scheint. In der Umbruchzeit zur freien Marktwirtschaft und zur politischen Demokratie vom liberalen Typ kam es in der bulgarischen Gesellschaft zu krassen Spaltungen nicht nur in den Sozialisationsmechanismen, sondern auch in den Werten.
Interessant ist die Frage: Bis zu welchem Grad sichern die Bestrebungen nach Erfolg den jungen Menschen auch einen besseren Lebensstandard?
Trotz der großen Unterschiede zwischen Zentral-und Südosteuropa beobachten wir ein und dieselbe Generationsdifferenz. Überall ist die junge Generation in einer besseren Position. Die Jugend ist ein Kapital, das sich auf dem neuen Arbeitsmarkt durchsetzt. Die junge Generation hat unumstrittene Vorteile in den modernsten Informationstechnologien. Die Erwachsenen investieren gerade deswegen in die jungen Menschen, wobei sie gute Ausbildungsmöglichkeiten als Voraussetzung für ihren späteren Lebenserfolg schaffen.
Auch die Beziehung zur Ehe als Institution ist völlig verändert. Die meisten von den jungen Bulgaren meinen, dass sie ihr Leben ohne Ehe gestalten können. Das verändert aber nicht prinzipiell die Beziehung zu Kindern. Zwei Drittel von den jungen Menschen sind überzeugt, dass man sein Leben ohne Kinder nicht voll erleben kann. In den letzten Jahren sind 40% der in Bulgarien geborenen Kinder „unehelich“. Daraus wird klar, dass die staatlich-regulierte Form eines Zusammenlebens von Mann und Frau unter Frage gestellt wird. Nach dem Verdrängen der Kirche als eine Autorität und Legitimierungsinstitution zeigt die Tendenz auch die sinkende Rolle des Staates in dem Bereich Ehe.
Entpolitisierung:
Die Mehrheit der bulgarischen Jugend zeigt kein Interesse für das politische Leben. Der Kontrast zwischen der aktiven Teilnahme an Protestaktionen Anfang der 90-er Jahre und der Passivität heute, sogar bei Wahlen, ist ein Ausdruck der Enttäuschung über die Tätigkeit der Institutionen und der politischen Parteien. Das Gefühl des Fehlens von Unterstützung und Menschenverständigung, sowie von Anstößen für persönliche Initiativen sind von Bedeutung, um die Symptome der Distanz der Jugendlichen vom politischen Leben zu verstehen. Sehr bemerkenswert ist die Tatsache, dass 40% der jungen Bulgaren an keinem Protest, nicht einmal nach einem konkreten Anlass, teilnehmen würden. Das bedeutet aber keinen Mangel an politischer Sensibilität. Die Jugendlichen sind am weitesten vom Negativismus und am nähesten am positiven Denken.
Sehr charakteristisch ist der Jugendskeptizismus zu einer Teilnahme in irgendeiner Form von Organisation. Der reale Sozialismus kennzeichnete sich durch eine Superorganisiertheit (die jungen Menschen waren obligatorisch Mitglieder der einzigen politisierten Jugendorganisation). Jetzt zählen alle politischen und unpolitischen Jugendorganisationen gerade mal 3-4% von allen Jugendlichen. Von einer Hyperorganisiertheit ohne eine dazwischenstehende Generation erreichte die Jugend in Bulgarien einen Zustand von Hypoorganisiertheit.
Im wirtschaftlichen, familiären und politischen Bereich auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Form distanziert sich die Jugend vom Staat. Im Kulturbereich ebenso.
Vom Nationalstaat zu einem Vereinten Europa:
Zwischen den grundlegenden ethno-religiösen Gemeinschaften im Lande bestehen wesentliche Meinungsunterschiede. In Bezug auf Europa aber, entsteht ein eigenartiger Konsens. Charakteristisch dafür sind die Auswanderungsabsichten vieler Jugendlicher. Trotz des starken Einflusses der amerikanischen Kultur streben die jungen Bulgaren nach Europa. Auch die jungen ethnischen Türken bevorzugen die Länder der EU gegenüber der Türkei und die jungen Roma das Erlernen der englischen Sprache gegenüber ihrer eigenen.
Europäisches Bewusstsein:
Mit dem größten Grad eines europäischen Bewußtseins unterscheidet sich in Bulgarien die jüngste Generation. Für sie hat die Zugehörigkeit zu Europa den Charakter einer Einbindung in die kulturellen Werte Europas. Für sie ist Europa ein Modell, das sie vor Ort erleben wollen.
Fehlen an Sorge vor den negativen Seiten der Integrationsprozesse und der Globalisierung:
Die Jugendlichen unterscheiden sich von allen anderen mit ihrem niedrigen Grad an Besorgtheit um das Verlieren der bulgarischen Traditionen und Kultur, um die Amerikanisierung des gesellschaftlichen Lebens, sowie um das Eindringen vom Islam bei einer allgemeinen Steigerung dieser Ängste in der Gesellschaft.
Der Preis der Integration:
Die Bereitschaft sich von den nationalen Attributen im Namen der EU Integration zu trennen ist ziemlich groß unter den jungen Bulgaren (jeder dritte). Ein Prozess der Entnationalisierung und einer Distanzierungsbeziehung zum Nationalstaat ist vorhanden. Diese Erscheinung ist nicht zufällig. Sie piegelt gleichzeitig die tiefe Wertekrise der bulgarischen Gesellschaft und das Streben nach einer neuen europäischen Perspektive wieder. Die Einstellung der Jungen zeichnet eine sozial-psychologische Umstellung vom Russophilen zum Europhilen.
Die neue Jugend:
Die heutige Jugend wird zu einem kollektiven Träger der Verwestlichung. Das Übernehmen der westlichen kulturellen Vorbilder und Verhaltensmodelle ist ein großes Generationsfaktum, unbeachtet von den Unterschieden in Geschlecht, Wohnort, ethnischer Zugehörigkeit und politischen Sympathien. Ins politische Leben treten die ersten postkommunistischen Jahrgänge. Die gesellschaftliche Bewegung bringt die Jugendlichen auf eine neue historische Dimension. Die Jugendlichen gehen am wenigsten auf Nostalgie ein. Die Jugend macht den historischen Umbruch zu einer neuen Denkweise, ohne genügend Stützpunkte in den sozialen Erfahrungen und Werteeinstellungen von den Erwachsenen zu haben und sucht seinen Weg in einer widersprüchlichen sozialen Realität. Der Umbruch stimmt mit den Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung überein – die Zivilgesellschaft und die europäische Integration. Er wird von Einseitigkeit, Überschätzung und Illusionen begleitet. Letztendlich ist es aber wichtig, nicht nur in Europa integriert zu werden, sondern auch welchen Platz Bulgarien darin einnimmt. Den jungen Menschen wurde schneller als den Erwachsenen der Kern der gesellschaftlichen Veränderungen bewusst: Der Schwerpunkt im gesellschaftlichen Leben wird vom Staat in die Zivilgesellschaft versetzt. Darin liegt auch zum Teil der Schlüssel der Jugendentpolitisierung. Die Anpassung hat aber nicht nur positive Seiten. Die negativen Seiten des Umbruchs werden als eine Norm übernommen.
Die europäischen Werte:
Führend für die jungen Bulgaren sind die europäischen Werte wie: Marktwirtschaft und Demokratie. Schon zehn Jahre lang sind sie Schlüsselwörter im gesellschaftlichen Leben.
Die Generationskrise:
Der Umbruch hat die „Generationsverbindung“ zerrissen und gleichzeitig die Generationskontinuität auf eine tiefgreifende Probe gestellt. Die Erwachsenen, darunter ihre eigenen Eltern sind kompromitiert. Dasselbe Schicksal tragen die totalitären Strukturen, sowie die bulgarische Kirche, die tiefe innere Konflikte erlebte und bis vor kurzem in zwei gegenüberstehnden Synoden mit zwei Patriarchen geteilt war.
Die Generationsantwort:
Die Jugend gibt durch ihr Verhalten eine doppelte Antwort auf die neuen Herausforderungen. Die eine ist die Bereitschaft diejenigen Möglichkeiten der heranwachsenden Zivilgesellschaft zu nutzen. Die andere – für einige als Reserve, für andere als Grundvariante – ist die Emigration. Die bulgarische Jugend zeigt eine höhere Sensibilität und passt sich vorrangig an die Bedingungen nach dem Umbruch an. Diesen Umbruch haben die Erwachsenen 1989 begonnen, er wird aber von den jungen Menschen fortgesetzt – das ist ein Generationsgesetz. Es bleibt die vielseitige Bedeutung der These: die bulgarische Gesellschaft hat keine anderen bedeutendenderen internen Ressourcen als sich das Innovationspotential ihrer Jugend bewusst zu machen.
Unsere Bildungseinrichtung FAR will den jungen Menschen die Chance geben den Weg zur Entdeckung des weiten Spektrums der Zivilgesellschaft zu gehen, kritisch die kulturellen und gesellschaftlichen Folgen der gewaltigen Transformationsprozesse in Südosteuropa zu reflektieren, sowie trotz ihrer schweren jetzigen Situation ihre Zukunft in Verbindung mit der Entwicklung ihres eigenen Landes zu sehen.